Feldarbeit ist für mich immer eine willkommene Abwechslung zur sonst vorwiegend sitzenden Tagesgestaltung. ‚Der direkte Kontakt mit der Natur‘ (oh Gott, was für ein fürchterlich distanzierter Begriff), das Lebendige zu beobachten, packt mich. Besondere Highlights aber sind die Erlebnisse, die mir abseits der eigentlichen Arbeit per Zufall widerfahren. So auch bei der Ausfahrt zur fotografischen Kartierung ‚unseres‘ Untersuchungsgebietes an der Küste Rügens („uns“ bezieht sich auf eine Kommilitonin und mich. Wir arbeiten gemeinsam an einem Projekt für das Biosphärenreservat Südost Rügen…)
Eigentlich war der Wetterbericht vielversprechend, zwar bewölkt, aber trocken. Das ist für Fotoarbeiten nicht das Schlechteste; Schlagschatten machen sich nie so wirklich gut auf Fotos. Wovon aber niemand im Wetterbericht gesprochen hatte war Nebel. Was will man schon fotografieren, wenn man es nicht sieht? Da wir einen Teil der Steilküste aufnehmen wollten, machte sich Nebel nicht besonders gut, vor allem nicht, wenn er davor hängen bliebe. Unser Skipper machte uns allerdings Hoffnung, dass der Nebel verschwände. Soweit die Theorie. Im Sommer funktioniert das auch recht gut, aber im Herbst? Naja, es blieben zwei Stunden Hoffen und Bangen auf der Bootsfahrt zum entsprechenden Küstenteil. Und im Kopf spielte sich der „Wetterfilm“ ab: Wind! Ja, Wind der würde gegen den Nebel helfen. Aber Wind bringt Wellen, Wellen bringen Unruhe ins Boot und bei der Schaukelei vernünftige Aufnahmen zu machen: unmöglich. Naja, vielleicht verschwindet der Nebel ja wirklich.
Aber: Pustekuchen! Er verschwand nicht und somit blieb uns nur das Wetter so zu akzeptieren wie es war: suboptimal. Dennoch, trotz der schlechten Sicht haben wir zumindest an der Küste den Zeitpunkt erwischt, an dem der Nebel am lichtesten und das Wasser spiegelglatt war, so dass verwertbare Fotos für die weitere Arbeit dabei herauskamen. Gott sei Dank! Vier Stunden Bootfahrt waren also nicht für die Katz.
Der Ein oder Andere mag sich nun fragen: „Und wo bleibt das besondere Highlight?“ Tja, eigentlich ist doch so eine Bootsfahrt bei über 20 Knoten schon ein Highlight für sich. Und auch Rügen ist von der Seeseite gesehen eine echte Schönheit! Und natürlich ist es ein tolles Gefühl, wenn man weiß, dass der Aufwand nicht Vergebens war; dazu waren allerdings noch einige Stunden Fotobearbeitung nötig. Als wir also unsere Fotos geschossen hatten und der Nebel wieder dichter wurde, so dass weitere Fotografier Versuche vergebens waren, machten wir uns wieder auf den Heimweg. Während Müdigkeit und der eine oder andere Gedanke uns in ihrem Bann fesselten, bemerkte der Spock in mir mit einer leichten Augenbrauenbewegung, dass unser Skipper sich von der eigentlichen Route entfernte. Hm. Vielleicht will er doch den ewigen Fischernetzen ausweichen, die bei dem Nebel schwer zu entdecken waren und teilweise auch nur umständlich zu umschiffen. Oder er muss in eine Fahrrinne? Aber: Was verstehe ich schon von Seefahrt! Es musste einen Grund geben. Warum sollte er sonst hinaus in die rauere See fahren? Untiefen? Ja, es gibt schon einige Sandbänke und Felsblöcke, die eher unangenehm werden konnten. Doch dann wurde unser Boot langsamer, die See ruhiger und ich sah, warum wir da waren wo wir jetzt waren. In einiger Entfernung sah ich einige Köpfe, die auf die Distanz schwimmenden Hunden mit herausgestreckten Köpfen nicht unähnlich waren. Ganz langsam und behutsam näherte sich der Skipper weiter dieser seltsamen Gruppe Tiere auf dem jetzt spiegelglatten Wasser.
Schnell griff ich erneut meine Kamera, die bei dem Nebel Schwierigkeiten hatte einen Focus zu finden. Uns war natürlich längst klar, wohin uns der Skipper gebracht hatte:
Vor uns lag eine große Sandbank, die regelmäßig von Kegelrobben besucht wird.
Kegelrobben (Halichoerus grypus FABRICIUS 1791) sind in Deutschland die größten Raubtiere. Die in der Ostsee beheimateten Tiere werden als eigene Unterart beschrieben (Halichoerus grypus balticus). Kegelrobben können über 200 cm lang und über 300 kg schwer werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befanden sich ca. 100.000 Tiere in der Ostsee. Für den Menschen galt die Kegelrobbe jedoch als “Fischereischädling”, weshalb sie innerhalb kürzester Zeit nahezu ausgerottet wurde. Ferner setzten Umweltgifte der Reproduktionsfähigkeit der Tiere weiter zu, so dass Anfang der 80er Jahre nur noch 2.500 Individuen übrig waren. Seit dieser Zeit konnten, nicht zuletzt aufgrund wachsendem Umweltverständnis und den damit verbundenen Gesetzen, die Populationen der Kegelrobbe in der Ostsee wieder zulegen, so dass der Bestand auf nunmehr ca. 27.500 Tiere geschätzt wird. Ein ausführlicher Steckbrief der Kegelrobben ist hier zu finden:Halichoerus grypus.
Was für ein Erlebnis! Diese schönen Tiere friedlich in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten, das war wirklich ein ganz besonderer Moment. Und wie neugierig sie waren! Der Mutigste wagte sich bis ca. 20 m an unser Boot, so dass ich ein paar gute Aufnahmen machen konnte. Allerdings sorgte jede ruckartige Bewegung, jede noch so kleine Kurskorrektur dafür, dass er blitzschnell unter Wasser verschwand und an irgendeiner anderen Stelle wieder auftauchte. Insgesamt konnten wir auf der Sandbank gut 20 Kegelrobben zählen, was nicht leicht fiel, immer wieder tauchten sie unter die Wasseroberfläche.
Doch auch ohne Bejagung und Verschmutzung mit Giften lauern immer noch anthropogene Gefahren, die den Kegelrobben zu schaffen machen. Unter den Tieren ist uns ein großer Bulle aufgefallen, der schon seit einigen Jahren beobachtet wird. Er hat einen auffälligen Wulst um den Hals, laut unseren Rangern der Rest eines Netzes oder ähnlichem, worin sich das Tier verfangen hatte. Über die Jahre ist durch das Einwachsen des Fremdkörpers dieser Wulst entstanden; eine Nahaufnahme lässt vermuten, dass sich dahinter kein Fell mehr befindet.
Der Wille des Helfens schießt mir in den Kopf und durchfährt mich; aber wie kann man einem ca. 300kg schweren Meerestier helfen, welches bei der geringsten falschen Bewegung auf und davon ist? Eine bedrückende Erkenntnis, dass dem Tier kaum geholfen werden kann und es weiterhin unter dieser Beeinträchtigung leben muss. Diese Erfahrung lehrt mich erneut, dass wir nicht gedankenlos mit unserer Erde umgehen dürfen, dass wir umsichtig sein müssen, nicht nur um unserer Selbst willen, sondern auch aus Respekt allen anderen Lebewesen gegenüber. Mit diesen wunderschönen und auch nachdenklich stimmenden Eindrücken fahren wir wieder Richtung Heimat.
Ich muss noch lange an das Erlebte denken und entschließe mich deshalb, euch hiervon zu berichten.
H. Burgardt